Der gute Böse. Zur Genealogie der Unmoral in ‘Breaking Bad’ und ‘Better Call Saul’

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Der Anwalt Saul Goodman (Bob Odenkirk) und sein Mandant Walter White (Bryan Cranston) in der 2. Staffel von „Breaking Bad“ © AMC (Quelle: http://waitwhathappened.com/better-call-saul-tv-show-review/)

„I did it for me. I liked it. I was good at it. And I was really — I was alive.“
(Walter White)

„I know what stopped me. And you know what? It’s never stopping me again.“
(Jimmy McGill)

Einleitung

Die Fernsehserie ‘Breaking Bad’ über einen Highschool-Lehrer, der zum Drogenbaron aufsteigt, gilt zu Recht als eine der besten Dramaserien überhaupt. Neben einer spannenden Story mit vielen überraschenden Wendungen und vielschichtigen Charakteren verdichtet sie auf originelle Weise eine Reihe von (moral-)philosophischen Fragen, die Dichter und Denker seit Jahrtausenden bewegen: Was bedeuten ‘gut’ und ‘böse’? Wie führt man ein glückliches und gelungenes Leben? Wie verhalten wir uns im Angesicht des (eigenen) Todes? Aus welchen Gründen handeln wir so und nicht anders? Und wie lässt sich dieses Handeln rechtfertigen?

Was ‘Breaking Bad’ so besonders macht und von vergleichbaren Produktionen unterscheidet, ist die Ambivalenz und Tiefe der dargestellten Personen, die sich im Laufe der Serienereignisse entwickeln und deren jeweilige Rollen nicht eindeutig als Sym- oder Antipathie-Träger angelegt sind, sondern als lebendige Kraftzentren für die von und zwischen ihnen ausgetragenen Konflikte fungieren. Diese offene Unbestimmtheit der in ‘Breaking Bad’ erzählten Lebensgeschichte(n) funktioniert so überzeugend, dass sogar eine unterhaltsame Nebenfigur wie der zwielichtige Anwalt des Hauptprotagonisten das Potenzial zu einem veritablen Spin-off entwickeln kann.

Zwar erscheint ‘Better Call Saul’ auf den ersten Blick dramaturgisch und psychologisch nicht ganz so elaboriert wie sein Vorgänger, doch spricht die Tatsache, dass darin die Vorgeschichten von Saul Goodman alias Jimmy McGill oder von Mike Ehrmantraut – umsichtiger Mann fürs Grobe und zugleich liebevoller Großvater – gleichsam nahtlos weiterzählt werden können, für eine spezifische Qualität der Herangehensweise. Auch hier ist es die jeweilige Lebensgeschichte, aus der ein quasi-moralischer Charakter erwächst und dessen Handlungen und Wertmaßstäbe umso authentischer anmuten, je mehr sie sich von konventionellen Moralvorstellungen befreien.

An Walter ‘Heisenberg’ White oder Saul ‘Slipping Jimmy’ Goodman lässt sich zeigen, was Nietzsche in seiner ‘Genealogie der Moral’ (1887) exemplarisch für die Entstehung von Wertprädikaten wie ‘gut’ und ‘böse’ vorgeführt und Heidegger in ‘Sein und Zeit’ (1927) mit der existenzialontologischen Interpretation des Gewissens fortgesetzt hat: Die Bedingung der Möglichkeit für moralisches Handeln ist die Übernahme der eigenen Lebensgeschichte im Sinne eines verantwortungsfähigen Selbstverhältnisses. Nicht die Summe der aus der Perspektive Dritter zusammengetragenen physischen oder psychischen Ursachen, sondern die Zuschreibung von Lebensereignissen als unverzichtbare Elemente individueller Selbsterfahrung liefern die Gründe, warum Entscheidungen so oder eben anders getroffen werden.

Die Grenze zwischen ‘gut’ und ‘böse’, zwischen Moral und Unmoral, ist dabei fließend und verläuft quer durch jeden Einzelnen, der sich selbst und andere entweder über seine Lebensmotive und -modelle täuschen kann oder den Widerspruch zwischen eigenen Ansprüchen und fremden Erwartungen aushält.

Breaking Bad’ und ‘Better Call Saul’ erzählen jeweils wie ein moralphilosophisch grundierter Bildungsroman, wie ihre Haupt- und Nebenfiguren zu dem werden, was sie sind, indem sie sich – wie Walter White alias Heisenberg – entweder angesichts einer existenziellen Extremsituation dafür entscheiden, von einem vorgezeichneten und vermeintlich ‘anständigen’ Lebensweg abzuweichen, oder – wie Jimmy McGill alias Saul Goodman – so lange vergeblich nach einer regelkonformen Nische innerhalb der Gesellschaft zu suchen, bis sich das Ausnutzen und Umgehen des vorgegebenen (Rechts-)Systems als die eigentlich adäquate Existenzform erweist.

Bevor die Transformation der beiden Charaktere und die Verflechtung ihrer Lebenswege als Antwort auf die Frage nach der Entstehung des ‘Guten’ bzw. ‘Bösen’ nachgezeichnet werden kann, gilt es daher zunächst die ‘Geschichte’ zu erzählen, aus der sich ein gutes bzw. schlechtes ‘Gewissen’ als moralische Instanz herausgebildet hat.

Von der ‘Geschichte’ zum ‘Gewissen’

Friedrich Nietzsches 1887 veröffentlichte Streitschrift ‘Zur Genealogie der Moral’ wird gemeinhin der späten Phase seines Denkens zugeordnet, in der er sich einem stärkeren Systematisierungsdruck ausgesetzt sieht und folglich auf die thematischen Knotenpunkte seines Denk- und Lebensweges zurückkommen muss. Methodisch äußert sich dies als ein historisch-philologisch inspiriertes Philosophieren, das sowohl einer Dechiffrierung der „Hieroglyphenschrift der menschlichen Moral-Vergangenheit“ (KSA 5, 254) als auch seiner eigenen Texte verpflichtet sei, um sie beiderseits auf ihr ‘konkretes Apriori’, d. h. ihre quasi-transzendentalen Voraussetzungen, hin auszulegen.

Dabei kennzeichnet es das genealogische Verfahren, die Entstehungsgeschichte nicht im Sinne linearer Kausalität, sondern als komplexe Konstellation von Lebenssituationen aufzufassen. Die Vervielfältigung der Perspektiven und Kontexte erlaubt Nietzsche die Aufstellung von Hypothesen hinsichtlich der Bewertung und Bedeutung eines Phänomens nach wechselnden Kriterien. Im Falle der Moral ist also weniger die Reduktion z. B. auf ihre physiologischen Ursachen angestrebt als vielmehr die Kompromittierung einer vermeintlich absoluten Geltung zugunsten lebenspraktischer Orientierung.

Bereits mit seiner früheren unzeitgemäßen Betrachtung ‘Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben’ (1874) hatte Nietzsche den engen Zusammenhang von ‘Erinnern’ und ‘Vergessen’ als anthropologisches Fundament einer lebensdienlichen Geschichtsschreibung betont. Dass die Voraussetzung für eine wissenschaftliche Historie in der Selbstauslegung des nur geschichtlich existierenden menschlichen Daseins zu suchen sei, griff dann Martin Heidegger später in seinem unvollendetem Hauptwerk auf.[1]

Die Geburt des schlechten Gewissens

Auf das hier interessierende Thema einer Entstehung der (Un-)Moral von Walter White und Saul Goodman aus einer mehr oder minder gewaltsamen Aneignung ihrer jeweiligen Lebensgeschichte(n) bezogen, bedeutet dies Folgendes: Es bedarf eines langwierigen Moralisierungs- und Sozialisierungsprozesses, an dessen Ende erst das „souveraine Individuum“ zu stehen komme, um sich schließlich als autonomes wieder von der „‘Sittlichkeit der Sitte‘“ (KSA 5, 293) loszusagen und seine (Selbst-)Verantwortlichkeit als Gewissen anzusprechen. Nietzsches genealogische Hypothese über die Herkunft eines vermeintlichen ‘moralischen Gesetzes in mir’ (Kant) besteht also in dessen expliziter Rückbindung an die Öffentlichkeit einer geschichtlichen Lebensform. Im Hintergrund der moralischen Begrifflichkeit stünde somit die Grausamkeit eingeschrieben, deren man sich als gedächtnisstützende Vergewaltigung oder ausgleichende Vergeltung erinnert. Mit dem Fortgang der Kulturentwicklung zeichne sich zwar ihre „wachsende Vergeistigung und ‚Vergöttlichung‘“ (KSA 5, 301) ab, doch sei sie auch heute nicht etwa abgeschafft, sondern lebe in Formen der „Sublimirung und Subtilisierung“ (KSA 5, 303) fort. Denn laut Nietzsche fungiere Leben per se „verletzend, vergewaltigend, ausbeutend, vernichtend“ (KSA 5, 312) und erschaffe sich mit Recht und Moral nur verfeinerte Machtmittel seiner Steigerung. Aber erst im ‘schlechten Gewissen’ wende sich das Leben gegen sich selbst, nachdem der Mensch sich „endgültig in den Bann der Gesellschaft und des Friedens eingeschlossen fand“ (KSA 5, 322), d. h. nachdem ihm eine staatliche Organisation aufgezwungen und das ursprüngliche Gewaltmonopol abgerungen worden sei, sodass er andere Formen des (Aus-)Lebens erfinden müsse:

„Der Mensch, der sich, aus Mangel an äusseren Feinden und Widerständen, eingezwängt in eine drückende Enge und Regelmässigkeit der Sitte, ungeduldig selbst zerriss, verfolgte, annagte, aufstörte, misshandelte, dies an den Gitterstangen seines Käfigs sich wund stossende Thier, das man ‘zähmen’ will, dieser Entbehrende und vom Heimweh der Wüste Verzehrte, der aus sich selbst ein Abenteuer, eine Folterstätte, eine unsichere und gefährliche Wildniss schaffen mußte – dieser Narr, dieser sehnsüchtige und verzweifelte Gefangne wurde der Erfinder des ‘schlechten Gewissens’.“ (KSA 5, 323)

Im dritten Abschnitt seiner Abhandlung rekonstruiert Nietzsche schließlich die Bedeutung der sogenannten ‘asketischen Ideale’ in Kunst, Religion, Wissenschaft und Philosophie im Sinne spezifischer Seinsweisen des modernen Menschen als eines „Erben der Gewissens-Vivisektion und Selbst-Thierquälerei von Jahrtausenden“ (KSA 5, 335). Zur Aufrechterhaltung seiner nunmehr introvertierten und degenerierten Lebensform habe er sich die intellektuellen wie affektiven Bedingungen geschaffen, unter denen das Ressentiment „selbst schöpferisch wird und Werthe gebiert“ (KSA 5, 270): – die von Nietzsche zeitlebens so heftig bekämpfte christlich-abendländische Moral, um dem Leiden am Leben einen Sinn zu verleihen.

Entschlossenheit zur Entscheidung

Die Möglichkeit des ‘eigentlichen Selbstseinkönnens’ als Emanzipation von einer tradierten Lebensgemeinschaft erweist sich als theoretischer wie praktischer Angelpunkt der Daseinsanalyse in Martin Heideggers unvollendetem Hauptwerk ‘Sein und Zeit’, da dieser die Schnittstelle zwischen ontologischer und ontischer, existenzialer und existenzieller Interpretation darstellt. Aus der „Verlorenheit in das Man“ (SZ 268) und dem unreflektierten Repertoire seiner Orientierungsangebote gilt es das Selbst zurück– und die Wahl einer Entscheidung nachzuholen. Dazu bedarf es aber zunächst einer Selbstfindung, die sich methodisch als Hervorhebung des ‘Eigentlichen’ inmitten des ‘Uneigentlichen’ artikuliert. Daher biete sich der Auslegung die kulturell vermittelte „Stimme des Gewissens“ (ebd.) an, um vor allen psycho-, bio– oder theologischen Erklärungsvarianten ihren performativen Status als eine verbindliche Instanz zu befragen:

„Festzuhalten gilt es: der Ruf, als welchen wir das Gewissen kennzeichnen, ist Anruf des Man-selbst in seinem Selbst; als dieser Anruf der Aufruf des Selbst zu seinem Selbstseinkönnen und damit ein Vorrufen des Daseins in seine Möglichkeiten.“ (SZ 274)

Heidegger geht es in erster Linie darum, den Aufforderungscharakter kommunikativer und kooperativer Situationen des In-der-Welt-seins, die nach Be- und Verantwortung verlangen, auf einen ursprünglichen Begriff von ‘Schuld’ im Sinne eines „Grundsein[s] einer Nichtigkeit“ (SZ 283) zu bringen. Dies bedeutet gemäß der ontologischen Analyse, dass menschliches Dasein als ‘geworfener Entwurf’ wesenhaft hinter seinen Möglichkeiten zurückbleibe, die ihm zur Verwirklichung aufgetragen sind. Vor die Qual der Wahl gestellt, entscheide es sich für die einen und gegen die anderen und mache sich damit in einem zweifachen Sinne ‘schuldig’: Zwar ist Dasein ‘Verursacher’ seiner Handlungen, doch kann es weder über sich noch über seine ‘Gründe’ restlos verfügen. Das ‘Gewissen-haben-wollen’ bestimmt Heidegger nun als ein „Freisein für das eigenste Schuldigsein“ (SZ 288) im Gegensatz zu einer üblichen Interpretation als „erinnerndes Verweisen auf die zugezogene Schuld“ (SZ 290). Unter jenem sei ein Selbstbezug zu verstehen, der vornehmlich angesichts existenzieller Extremsituationen wie Angst und Tod aufscheine, da hier die weltliche Verstrickung auf ihr Minimum zurückgedrängt sei. Die alltägliche Rede vom ‘schlechten’ oder ‘guten’ Gewissen verfehle aber diesen phänomenalen Befund, da sie Leben wie ein zu verwaltendes und verrechnendes Geschäft betrachte, während die existenziale Struktur überhaupt erst die notwendige Bedingung für das Handeln nach moralischen Kriterien und öffentlichen Normen darstellen würde:

„Aus dem eigentlichen Selbstsein der Entschlossenheit entspringt allererst das eigentliche Miteinander, nicht aber aus den zweideutigen und eifersüchtigen Verabredungen und den redseligen Verbrüderungen im Man und dem, was man unternehmen will.“ (SZ 298)

Zwar solle das Missverständnis vermieden werden, es handele sich hierbei nur um „aufnehmendes Zugreifen“ (ebd.) oder blinde Einsatzbereitschaft, doch gelingt es Heidegger nicht zu zeigen, wie sich das isolierte Dasein überhaupt noch gegenüber seiner Umgebung rechtfertigen soll. In seinem Tun und Lassen nur sich selbst verpflichtet, spielt es letztlich gar keine Rolle, welcher Art die Freiheitsversprechen sind, solange sich nur irgendein selbst gewähltes Schicksal an ihm vollstreckt:

„Wenn das Dasein vorlaufend den Tod in sich mächtig werden läßt, versteht es sich, frei für ihn, in der eigenen Übermacht seiner endlichen Freiheit, um in dieser, die je nur ‘ist’ im Gewählthaben der Wahl, die Ohnmacht der Überlassenheit an es selbst zu übernehmen und für die Zufälle der erschlossenen Situation hellsichtig zu werden.“ (SZ 384)

Die Entscheidungssituation des eigenen Ablebens vor Augen, ergreift auch die Hauptfigur von ‘Breaking Bad’ entschlossen nach den sich bietenden Möglichkeiten und entfaltet sich zu einem Alter Ego, das sich allmählich aller Skrupel hinsichtlich moralischen Sollens oder Wollens entledigt.

Von ‘Walter White’ zu ‘Heisenberg’

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Walter „Heisenberg“ White. (Quelle: http://de.breakingbad.wikia.com/wiki/Datei:WalterWhite.png)

Unter dem Titel ‘Breaking Bad’ wurden zwischen 2008 und 2013 insgesamt 62 Episoden in fünf Staffeln vom amerikanischen Kabelsender AMC ausgestrahlt. In Deutschland lief die Serie ab 2009 zunächst auf dem Pay-TV-Sender AXN, später dann auch beim öffentlich-rechtlichen Kulturprogramm ARTE. Der Titel ist laut Autor, Produzent und Regisseur Vince Gilligan ein Slang-Ausdruck, der so etwas wie „auf die schiefe Bahn geraten“ oder auch das absichtliche Verletzen moralischer Normen bedeuten soll.

Im Mittelpunkt von ‘Breaking Bad’ steht der 50-jährige Chemiker Walter H. White, der eine vielversprechende Laufbahn als Wissenschaftler aus nicht näher erläuterten Gründen für seine Familie aufgab und nun an einer Highschool in Albuquerque, New Mexico, unterrichtet. Mit seiner Frau Skyler, die in Teilzeit als Buchhalterin arbeitet und hin und wieder Kurzgeschichten schreibt, hat er einen 17-jährigen Sohn und bekommt im Laufe der zweiten Staffel noch eine Tochter. Der Sohn Walter Junior leidet infolge einer frühkindlichen Hirnschädigung unter leichten Sprach- und Bewegungsstörungen und ist auf Krücken angewiesen. Tochter Holly kommt nach einer weitgehend unkomplizierten Schwangerschaft etwas zu früh, aber gesund zur Welt – ein Ereignis, das Familienvater White wegen eines wichtigen Drogendeals verpasst.

Um den bescheidenden, aber nicht anspruchslosen Lebensstil einer typisch amerikanischen Mittelklasse-Familie zu finanzieren, jobbt Walter White neben seinem Lehrerberuf in einer Autowaschanlage. Seine Leidenschaft für das Fach Chemie trifft bei seinen Schülern überwiegend auf pubertäres Desinteresse; aufgrund seiner hölzernen und humorlosen Art, seines entwürdigenden Nebenjobs und seines behinderten Sohnes gilt er als Loser. Dieses Gefühl vermittelt ihm auch sein Schwager Hank Schrader, der zusammen mit seiner Frau Marie, Skylers Schwester, zwar ein enges und freundschaftliches Verhältnis zu den Whites pflegt, Walter aber bei jeder Gelegenheit auf joviale Weise spüren lässt, dass dieser eigentlich ein langweiliges, wenn nicht gescheitertes Leben führe.

Und so lädt er Walter auf der Feier zu dessen 50. Geburtstag dazu ein, ihn gelegentlich bei einem seiner Einsätze als Agent der DEA (Drug Enforcement Administration) zu begleiten, damit er endlich auch einmal etwas Aufregendes erlebe. Kurze Zeit später erfährt Walter dann bei einem Arztbesuch, dass er inoperabel an Lungenkrebs erkrankt sei, und entschließt sich, das Angebot seines Schwagers anzunehmen. Als er Hank aus dem Wagen heraus dabei zusieht, wie dieser und seine Kollegen ein Methamphetamin-Labor hochgehen lassen, erkennt er seinen ehemaligen Schüler Jesse Pinkman unter den Flüchtigen. Um die Behandlung seiner Krankheit zu bezahlen und seine Familie im Falle seines Todes versorgt zu wissen, beschließt er, seine chemischen Kenntnisse zur Herstellung von Crystal Meth zu nutzen. Er erpresst Pinkman, ihm dabei zu helfen und sich um den Verkauf der Droge zu kümmern.

Lebensgeschichte versus Herden-Moral

Mit dem in der Pilot-Folge aufgespannten Tableau wird eine komplexe Konstellation aus verschiedenen Handlungssträngen und Lebensentwürfen skizziert, die im weiteren Verlauf der Serie an Konturen gewinnen und den Hintergrund für kommende Entwicklungen ausmachen. Insbesondere in der Beziehung zwischen Walter und Jesse zeichnen sich die inneren Konflikte zwischen Lebensgeschichte und Moralvorstellung ab, die für die Charakterbildung der beiden Figuren ausschlaggebend sind. Angesichts der Verbrechen, in die der zukünftige Meth-Koch und sein Partner verwickelt werden bzw. die sie aus jeweils unterschiedlichen Motiven heraus gemeinsam begehen, formen sich zwei individuelle Persönlichkeiten mit am Ende diametral entgegengesetzten Lebensauffassungen.

So fühlt sich Walter durch Bildung, Beruf und Familie dem Schulabbrecher und Kleindealer Jesse überlegen und verleiht seiner Verachtung gegenüber dessen Drogenkonsum und oberflächlichen Lebenswandel durch ständige Belehrungen und Beleidigungen Ausdruck. Gleichzeitig fühlt er gegenüber Jesse eine geradezu väterliche Verantwortung, die emotionaler und ernsthafter als die zu seinem eigenen Sohn erscheint. Jesse hingegen gelingt es nicht, das zerrüttete Verhältnis zu seinen Eltern wiederherzustellen, für die er eine einzige Enttäuschung ist. Obwohl er gegen deren Spießermoral rebelliert, sehnt er sich nach familiärer Anerkennung und kümmert sich bis zu ihrem Tod um seine krebskranke Tante, in deren Haus er schließlich wohnen darf. Auch in Walter sieht er so etwas wie eine verhasste Vaterfigur, der er trotz aller wachsenden Verachtung bis zum Ende mit Respekt und einer gewissen Distanz begegnet.

Während Walter immer wieder seine Familie als oberste Wertinstanz einsetzt und sämtliche seiner Handlungen mit deren Schutz und Versorgung zu rechtfertigen versucht, dabei aber mehr einem Businessplan als einem moralischen Kompass folgt, gerät Jesse immer tiefer in einen Strudel aus Selbstzweifeln angesichts der Skrupellosigkeit seines Geschäftspartners, die der des mexikanischen Drogenkartells in nichts nachsteht. Es ist interessant zu sehen, dass das von Walter, Skyler, Hank oder Marie bei jeder Gelegenheit als ‘heilig’ beschworene Familienidyll auch für die Großkriminellen und Auftragsmörder von Gus Frings über die Salamancas bis hin zu Todd und seinen Onkel verbindlich ist. Für den von seiner eigentlichen Kernfamilie verstoßenen Jesse Pinkman sind hingegen gleichberechtigte und freiwillig eingegangene Beziehungen zu Freunden mit ähnlichen Lebenswegen wie Combo, Skinny Pete und Batcher oder so selbstbewusste wie unabhängige Partnerinnen wie Jane oder Andrea das idealtypische Verhältnis.

Als Walter und Jesse eine Münze darum werfen, wer den im Keller gefangen gehaltenen Dealer Krazy-8, der eine Gefahr für beider Geschäft und Leben bedeutet, umbringen soll, wird der von Nietzsche beschriebene Konflikt zwischen ‘Herden- und Herren-Moral’ offenkundig: Walters buchhalterische Aufstellung konventioneller Werte, die ihn davon abhalten könnten, erscheint phrasenhaft und abstrakt gegenüber der konkreten Bedrohung. Walters ‘schlechtes’ Gewissen beruft sich auf eine jüdisch-christliche Moral und versucht zunächst, Krazy-8 als Person zur ‘Vernunft’ zu bringen. Dessen tatsächliche Niedertracht zwingt Walter aber schließlich zu einer Tötung aus Notwehr.

Im Laufe der weiteren Folgen wird der Zuschauer Zeuge, wie sich der rationale Wissenschaftler mit einem über Generationen anerzogenen moralischen Empfinden zu einem rationalen Kriminellen entwickelt, der seine Skrupel dem Kalkül für seine eigenen Interessen unterwirft: Er sieht tatenlos zu, wie Jane im Drogenrausch an ihrem Erbrochenen erstickt, weil er fürchtet, sie könne Jesse gegen ihn aufbringen. Er tötet dann aber zwei weitere Dealer, um Jesses Leben zu retten, manipuliert diesen jedoch schließlich so, dass er den harmlosen Chemiker Gale Boettiger, ein potenzieller Nachfolger für Walter als Meth-Koch, erschießt. Den nicht weniger rationalen und skrupellosen Gus Frings wird er los, indem er dessen Intimfeind Hector Salamanca als Selbstmordattentäter missbraucht. Nun selbst an der Spitze eines Drogenrings stehend, erschießt er Gus’ früheren Ausputzer Mike, da dieser nicht bereit ist, mit Walter weiter zusammenzuarbeiten, und zudem eine Art väterliche Beziehung zu Jesse aufgebaut hat. Er lässt Mikes inzwischen inhaftierte Leute als potenzielle Verräter von Todds und Jacks Gang im Gefängnis ermorden, kann aber nicht verhindern, dass diese sich gegen ihn selbst wenden und schließlich seinen Schwager Hank, der Heisenberg auf die Spur kommt, vor seinen Augen umbringen. Aus Rache vergiftet Walter seine Gegenspielerin Lydia und tötet schließlich die Mörderbande mit Hilfe einer eigens konstruierten Selbstschussanlage. Schwer verletzt gibt er dem von Todd und Jack gefolterten Jesse eine Waffe, damit er ihn auch erschieße, doch verweigert sich dieser dem erneuten und letzten Manipulationsversuch. Jesse entkommt und Walter stirbt am Ende der fünften Staffel in einem Drogenlabor, das für den Ort seiner Selbstwerdung steht, während die Polizei eintrifft.

Unaufrichtigkeit oder Übermensch?

Die von Walter geplanten, beauftragten oder sogar selbst begangenen Morde, für die er die moralische Verantwortung trägt, diese jedoch als notwendige Maßnahmen zum Schutz seines oder Jesses Lebens bzw. seiner Familie rechtfertigt, haben zu verschiedenen Interpretationen seines Charakters geführt. Die einen sehen hier eine Art ‘falsches Bewusstsein’ am Werk, das Jean-Paul Sartre mit dem Begriff der ‘Unaufrichtigkeit’ (mauvaise-foi) beschrieben hat.[2]

Demnach bedeute Walters Existenz als überqualifizierter und unterbezahlter Lehrer und Familienvater die Verstrickung in eine ‚uneigentliche‘ und fremdbestimmte Lebensform, aus der er sich erst angesichts der Krebsdiagnose befreit und für sein ‚eigentliches‘ Selbst entscheidet. Dagegen wurde argumentiert, dass umgekehrt Walters Transformation zu ‘Heisenberg’ dasjenige beschreibt, was Sartre mit ‘unaufrichtig’ meint. Seine Lebenskrise, die angesichts der Krebsdiagnose aufbricht, bringe ihn dazu, seine bisherige Existenz als Lehrer und Wissenschaftler, Familienmensch und verantwortungsvoller Vater aufzugeben für etwas, was er nicht sei: ein Krimineller, der nach Geld und Macht strebt.[3]

Ein andere Interpretationslinie referiert auf Nietzsches Theorem des ‘Übermenschen’, der als regulative Idee für eine quasi-evolutionäre Selbstbefreiung des Individuums fungiert. Man hat Nietzsche daher gerne als Wegbereiter faschistoider Züchtungsfantasien missbraucht und missdeutet, dabei aber übersehen, dass es diesem keineswegs um eine tatsächliche Abschaffung des bisherigen Menschen geht. Vielmehr kann nach dem ‘Tod Gottes’ nur noch der Mensch als moralische Orientierungsinstanz seiner Selbstbestimmung gelten. Den destruktiven Nihilismus der Schwäche, der nur den ‘letzten Menschen’ hervorbringt, gilt es in einen Nihilismus der Stärke zu verwandeln, der seine eigenen Werte setzt. Und so transformiert sich auch Walter White als ‘Heisenberg’ zu einem ‘neuen’ Menschen, der sich trotz aller Amoralität aus den kausalen Verstrickungen seines bisherigen Lebens befreit.[4]

Als Walter beim ersten großen Drogengeschäft von Tuco Salamanca nach seinem Namen gefragt wird, nennt er sich anscheinend zufällig ‘Heisenberg’ – womit dieser natürlich nicht viel anzufangen weiß. Der deutsche Physiker und Nobelpreisträger Werner Heisenberg (1901 – 1976) zählt zu den bedeutendsten Wissenschaftlern des 20. Jahrhunderts. Die nach ihm benannte Unschärferelation besagt – vereinfacht ausgedrückt –, dass es innerhalb eines System keine exakte Bestimmung von Eigenschaften geben könne, da der Beobachter selbst die Situation beeinflusst. Für den Chemiker White, der an naturwissenschaftliche Methoden und Gesetze glaubt und die Chemie als ‘study of change’ beschreibt, bietet sich hier die Möglichkeit, so etwas wie Freiheit in seine Entscheidungen einzulassen.[5] So wie er sich freiwillig und aus persönlichen Gründen für eine kriminelle Karriere entschieden hat, so glaubt er auch bis zuletzt an die Möglichkeit einer Rückkehr in sein ‘normales’ Leben. Doch täuscht er sich selbst und seine Familie über seine eigentlichen Handlungsmotive. Nicht die ökonomisch-moralische Rechtfertigung ‘böser’ Mittel (Herstellung und Vertrieb von Drogen, Mord an gefährlichen Konkurrenten) zu ‘guten’ Zwecken (Erhaltung der Gesundheit bzw. Versorgung der Familie) bestimmt sein Handeln, sondern die Selbstverwirklichung seiner Fähigkeiten und die Befriedigung seines Bedürfnisses nach Anerkennung und Erfolg – selbst wenn dieser Lebensweg in einer Tragödie enden muss.

Von „Slipping Jimmy“ zu „Saul Goodman“

Bei der ersten Begegnung zwischen Walter und Saul in Folge 8 der 2. Staffel von ‘Breaking Bad’ ist jener alles andere als begeistert von Auftritt und Ansehen dieses Prototyps eines Winkel-Advokaten. Trotz schriller Anzüge und schräger Sprüche erweist sich Saul aber als genau der richtige Mann für Walters Geschäftsmodell, zumal sich der Drogen-Koch selbst noch nicht für einen echten Kriminellen hält, geschweige denn bereits so verhält. Der mit allen Wassern gewaschene und mit den nötigen Kontakten ausgestattete Goodman sorgt dafür, dass Walter und Jesse ihr Produkt erfolgreich vertreiben und das damit erwirtschaftete Geld waschen können, und bewahrt die beiden vor manchem unüberlegten Schritt, der sich auch für ihn selbst als existenzbedrohend herausstellen würde.

Saul Goodmans Strategien und Schachzüge sind skrupellos und bewegen sich meist ausschließlich am Rande der Legalität, doch unterscheidet sich seine besondere Art der Unmoral von der seines Auftraggebers: Walter Whites Arroganz und Ehrgeiz führen diesen immer weiter in den Abgrund, während Sauls Handeln trotz seines pragmatischen Zynismus durchaus gewisse Grenzen kennt, sich aber nicht von Gefühlen oder gar von Gewissensbissen leiten lässt. Es geht ihm vielmehr um sein persönliches und berufliches Überleben in einer feindlichen Umgebung. Das Gesetz und sein Showttalent geben ihm die Möglichkeit, sich immer irgendwie durchzuwinden und dabei seinen Schnitt zu machen – ohne Rücksicht auf falsche Moralvorstellungen oder überzogene Ambitionen, die meist tödlich ausgehen.

Am Ende der fünften Staffel von ‘Breaking Bad’ und nach dem Ende von Heisenberg muss auch der Anwalt untertauchen. Es stellt sich die Frage, wie es mit ihm weitergeht – und vor allem: wie er so geworden ist. Wenn es gut läuft, skizziert Saul Goodman dort ein Szenario, in dem er mit neuer Identität heil aus der Sache rauskommt und der Strafverfolgung oder Schlimmerem entgeht, könne er in einem Monat Geschäftsführer einer Cinnabon-Filiale in Omaha, Nebraska sein. Und tatsächlich zeigen die in Schwarz-Weiß gehaltenen Eingangssequenzen des Spin-Offs den optisch kaum wiederzuerkennenden Bob Odenkirk, wie er in einer typischen Shopping Mall Zimtschnecken aus dem Ofen holt und mit Zuckerguss bestreicht.

Eine andere Art Anwalt

Von der Serie ‘Better Call Saul’ wurden bislang vier Staffeln zwischen 2015 und 2018 produziert, eine fünfte ist für 2020 in Planung. Die bis heute insgesamt 40 auf dem Privatsender AMC bzw. in Deutschland und Österreich von Netflix ausgestrahlten Episoden sind sechs Jahre vor den Ereignissen von ‘Breaking Bad’ angesiedelt und enthalten eine Fülle an mehr oder minder offensichtlichen Querverweisen.

Im Mittelpunkt steht James ‘Slipping Jimmy’ McGill, ein charmanter Taugenichts und harmloser Trickbetrüger, der immer wieder in Schwierigkeiten gerät, bis ihn sein Bruder Chuck, erfolgreicher Rechtsanwalt und Senior Partner einer renommierten Kanzlei, aus dem Knast holt und ihm einen Job in der dortigen Poststelle verschafft. Aus Dankbarkeit und um endlich die Anerkennung des Älteren zu erlangen, studiert Jimmy nebenbei Jura an einer Fernuniversität und besteht nach zwei Fehlversuchen schließlich das Examen. Neben seiner Tätigkeit als Büroassistent und später als Anwalt kümmert er sich aufopferungsvoll um Chuck, der infolge einer psychosomatischen Erkrankung, welche als elektromagnetische Hypersensitivität beschrieben wird, seinen Beruf nicht mehr ausüben kann. Chuck reagiert mit starken Schmerzen auf jegliche Form von Elektrizität und verschanzt sich in seinem verdunkelten Haus. Jimmy versorgt ihn täglich mit Lebensmitteln und Zeitungen und bewahrt ihn schließlich sogar davor, nach einem öffentlichen Zusammenbruch in die Psychiatrie eingewiesen zu werden.

Da ihn HHM – die nach ihren Gründern Hamlin, Hamlin & McGill benannte Kanzlei seines Bruders – nicht als Anwalt einstellt, schlägt er sich als schlecht bezahlter Pflichtverteidiger durch und versucht mit kleinen Tricks und unkonventionellen Methoden, neue Mandanten zu gewinnen. Sein Spitzname ‘Slipping Jimmy’ stammt dabei von seinem zweifelhaften Talent, mit dem er es in seiner Jugend schaffte, Leute auszunehmen, indem er ihnen weismachte, für einen Sturz oder Unfall verantwortlich zu sein. Eine andere Lieblingsbeschäftigung an seinem früheren Heimatort Cicero, Illinois war es, gemeinsam mit seinem Jugendfreund Marco so lange mit irrwitzigen Geschichten die Eitelkeit und Habgier von Tresenbekanntschaften zu provozieren, bis diese ihr Geld schließlich für falsche Rolex-Uhren, seltene 50-Cent-Münzen oder todsichere Geschäftsideen ausgaben.

Während Marco seinen alten Freund für diese Gabe bewundert und die angebliche Läuterung zum Anwalt für eine fadenscheinige Fehlentscheidung hält, wirft Chuck seinem jüngeren Bruder vor, sich niemals von ‘Slipping Jimmy’ verabschiedet zu haben, und verhindert mit allen Mitteln, dass sein heiliges Recht und Gesetz von solch einem unwürdigen Charakter vertreten wird. Diese beiden wichtigen Bezugspersonen verkörpern das moralische Dilemma, in dem sich James McGill bewegt und das nicht zuletzt für seine Transformation zu Saul Goodman verantwortlich ist. Beide halten den unmoralischen ‘Slipping Jimmy’ für dessen eigentliche Existenz, aus der heraus sich schließlich sein Schicksal erfüllen soll. Alle Versuche, ein ehrbares oder ehrliches Leben zu führen, seien deshalb von vornherein zum Scheitern verurteilt.

Eine ungleich komplexere Rolle spielt Jimmys Kollegin, Partnerin und Freundin Kim Wexler. Sie stammt selbst aus kleinen Verhältnissen und arbeitet sich zur Anwältin bei HHM hoch, wird aber immer wieder von der Arroganz der namensgebenden Partner ausgebremst, insbesondere vom aalglatten Howard Hamlin, seines Zeichens Sohn des Gründers und mit dem berühmten goldenen Löffel im Mund auf den Karriereweg gebracht.

Sie empfindet große Sympathie für Jimmy – wenn nicht sogar mehr – und ist ebenso fasziniert von dessen Talent für den großen Auftritt, das Jimmys Menschenkenntnis und Empathiefähigkeit zum Ausdruck bringt. Zugleich fürchtet sie, dass all die kleinen Tricks und falschen Töne sie eines Tages selbst mit in den Abgrund reißen könnten.

Als Jimmy erfährt, dass Chuck höchstpersönlich die Einstellung des jüngeren Bruders verhindert hat und sogar dafür verantwortlich ist, dass Jimmy nicht mit ihm gemeinsam an einem großen Mandat arbeiten darf, das dieser aus eigener Kraft ins Rollen gebracht hat, fasst er einen perfiden Plan, um seinem Bruder zu schaden und gleichzeitig für Kim ein Mandat zurückzuholen, dass sie zunächst an HHM verloren hatte.

Als Chuck wieder einmal an einem allergischen Anfall leidet, verschafft sich Jimmy Zugang zu den im Haus aufbewahrten Akten und fügt mit großem Aufwand einen Zahlendreher in die Adresse des Mandanten ein. Beim Gerichtstermin fällt die Abweichung auf, Chuck hält es für undenkbar, dass er einen Fehler begangen haben könnte, und verprellt seine Klienten. Dennoch hält er daran fest, dass nur Jimmy zu solch einer Manipulation fähig sei, und stellt diesem eine Falle, um den Übeltäter seiner gerechten Strafe zuzuführen.

Vom schlechten Gewissen angesichts des Zustands seines Bruders geplagt, gibt Jimmy die Tat zu, nicht ohne darauf hinzuweisen, dass hier Aussage gegen Aussage stehe. Chuck nimmt das Geständnis jedoch auf und provoziert Jimmy zu einem tätlichen Angriff, damit er ihn anzeigen kann. Im anschließenden Verfahren gelingt es Jimmy und Kim jedoch, Chuck als psychisch labilen Simulanten vorzuführen, der seinen Bruder aus Neid und Missgunst zu diskreditieren versucht.

Der endgültige Bruch zwischen den Brüdern sowie der Gesichtsverlust als erfolgreicher Anwalt treiben Chuck am Ende der dritten Staffel in den Selbstmord, sodass Jimmy endgültig der nur widerwillig akzeptierte moralische Kompass abhandenkommt. Die vierte Staffel, die Chucks Charakter nur noch in Rückblenden bzw. einem Abschiedsbrief aufgreift, zeigt einen zunehmend düsteren und zynischen Jimmy, wie er aus einer anfänglich echten Trauer um den verlorenen Bruder Vorteile für sein weiteres Fortkommen zu ziehen versucht.

Moralische Flexibilität als Möglichkeit

Im Laufe der Serie entwickelt sich auch die Beziehung zwischen Jimmy McGill und Mike Ehrmantraut, der in ‘Breaking Bad’ sowohl für Gus Frings als auch für Saul Goodman arbeitet. Ihr Verhältnis ist schwierig und von gegenseitiger Abneigung bestimmt, doch gibt es auch so etwas wie eine unterschwellige Anerkennung ihrer wachsenden moralischen Flexibilität und der daraus erwachsenden Möglichkeiten.

Wie Walter White und Jimmy bzw. Saul ist auch Mike ein zutiefst ambivalenter Charakter, dessen Größe sich auch und vor allem in seinen ‘unmoralischen’ Handlungen artikuliert: Als er seinem eigenen Sohn gegenüber zugeben muss, dass er als Polizist in Philadelphia selbst korrupt war, und ihn vor unüberlegten Schritten gegen die Kollegen warnt, löst er eine Tragödie aus. Der Sohn fügt sich dem Vater und dem System aus Abhängig- und Gefälligkeiten, wird aber schließlich als vermeintlicher Verräter erschossen. Mike rächt den Tod seines Sohnes und tötet die beiden verantwortlichen Kollegen. Er setzt sich nach New Mexico ab, wo die Witwe seines Sohnes mit ihrer Tochter – seiner Enkelin Kaylee – lebt. Um seine persönliche Schuld abzutragen und Verantwortung zu übernehmen, unterstützt Mike seine Schwiegertochter und Enkelin finanziell. Dafür arbeitet er als Parkwächter bei Gericht und übernimmt hin und wieder kleinere Jobs als Leibwächter oder ‘Berater’ bei zwielichtigen Geschäften.

Durch seine erfahrene und besonnene Vorgehensweise, die auf unnötige Gewalt und übertriebene Ansprüche verzichtet, gerät er zwar allmählich in den Wirkungskreis der Drogengeschäfte des mexikanischen Kartells und des Geschäftsmanns Gus Frings, aber auch immer wieder in Kontakt mit dem erfolglosen Anwalt Jimmy McGill, der sich seine Mandanten nicht aussuchen kann. Dessen anfänglich vielversprechende Nische, sich als Matlock-Verschnitt auf Seniorenrecht zu spezialisieren und dabei einen Betrugsskandal um einen Pflegeheim-Konzern aufzudecken, wird zur Sackgasse, als er sich wieder seiner üblichen Tricks bedient, um vorzeitig in den Genuss der ihm zustehenden Provision zu kommen.

Der Weg von Jimmy McGill zu Saul Goodman ist alles andere als konsequent und linear, denn er bemüht sich redlich, das ‘Richtige’ zu tun: So verfällt er zwar immer wieder auf seine alte Masche, um an Mandanten zu kommen, doch setzt er sein Talent und seine Fähigkeiten auch dafür ein, das moralisch und pragmatisch bestmögliche Ergebnis zu erzielen: Den der Untreue überführten Gemeindekämmerer Kettelman und seine gierige Frau überredet er, das unterschlagene Geld zurückzugeben und eine geringere Strafe zu akzeptieren; die von ihm zum Betrug angestifteten Skater diskutiert er aus den Fängen des rachsüchtigen Dealers Tuco, indem er lediglich das Brechen der Beine als angemessene Strafe aushandelt, und die von ihm eingefädelte Intrige unter den Betroffenen des Pflegeskandals, um den Rechtstreit mit einem Vergleich zu beenden, klärt er auf, indem er bei absichtlich offenem Mikrofon seine Machenschaften vor den alten Leuten zugibt.

Der Fluch der bösen Tat

Es liegt in der Logik des Prequels, dass sich die Story irgendwann den Figuren und Handlungssträngen der Ursprungsgeschichte von ‘Breaking Bad’ annähern muss. Doch bleibt es dem erzählerischen Genius der noch ausstehenden Folgen überlassen, die endgültige Transformation von ‘Paulus’ zu ‘Saulus’ plausibel zu machen. Die vor Kurzem abgeschlossene vierte Staffel markiert den endgültigen Wendepunkt für Jimmy McGill, als er vergeblich versucht, nach einjähriger Auszeit seine Zulassung als Anwalt wiederzuerlangen. Zwar zieht er alle Register seines Könnens und schafft es sogar, mit seinem persönlichen Bekenntnis zum Anwaltsberuf die Kommission zu Tränen zu rühren, doch unterstellt man ihm mangelnde Ernsthaftigkeit oder sogar Unaufrichtigkeit und bezweifelt – wie bereits Chuck – Jimmys charakterliche Eignung als Vertreter von Recht und Gesetz.

Er spürt, dass er keine Chance hat, jemals eine Reputation wie sein verstorbener Bruder zu erlangen, geschweige denn seine gesellschaftliche Position innerhalb des vorherrschenden Systems zu behaupten. Und dennoch sind es seine eigene Lebensgeschichte und die daraus erwachsenden Fähigkeiten, die ihn schließlich dazu bringen, sein Glück nicht als James McGill, sondern künftig als „Saul Goodman“ (eine von ihm selbst verwendete Verballhornung von „It’s all good, man“) zu machen – eine schillernde Kunstfigur mit schrillen Anzügen und schrägen Sprüchen, die nichts mehr mit einem seriösen Anwalt zu tun haben will, sondern das Maximum an Gerechtigkeit für diejenigen herausholt, für die sich moralisches Verhalten nach herkömmlichen Maßstäben einfach nicht lohnt.

Von „Heisenberg“ zu „Goodman“

In Jean-Paul Sartres letztem Werk ‘Der Idiot der Familie’ (1971/72) wird auf fast dreitausend Seiten am Beispiel des Schriftstellers Gustav Flaubert (1821 – 1880) der Frage nachgegangen, was man überhaupt von einem einzelnen Menschen wissen kann. Was Sartre interessiert, ist dabei nicht nur, was die Welt aus einem Menschen gemacht hat, sondern auch, was diesem Menschen aus dem zu machen gelingt, wozu die Welt ihn gemacht hat.

Walter White und Jimmy McGill können in gewissem Sinne auch als die ‘Idioten’ ihrer Familien gelten, solange sie die Wertmaßstäbe und Moralvorstellungen für ihr Handeln einem Rollenmodell entnehmen, das sie nicht selbst gewählt, sondern in das sie unfreiwillig hineingeraten sind. Familienvater und Highschool-Lehrer White rechtfertigt zwar seine Entscheidungen und Taten immer mit Blick auf seine Familie und leidet sichtlich unter dem Bruch mit seiner Frau und seinem Sohn, die ihn als Verbrecher verurteilen. Doch leidet er ebenso offensichtlich unter den Erwartungen seiner Familie, die ihn nur als das zu akzeptieren bereit ist, was ihren Vorstellungen von einem Ehemann, Vater und Lehrer entspricht. Auch Jimmy McGill scheitert an seinem Anspruch, zu dem jüngeren Bruder zu werden, auf den man stolz sein kann, weil er dem älteren nacheifert. Doch obwohl Jimmy ein Taugenichts und Hochstapler ist, der sich lieber ein Sandwich holt, statt am Sterbebett seiner Mutter auszuharren, fragt diese in ihrem letzten Augenblick ausgerechnet nach ihm statt nach Chuck, der immer alles richtig gemacht hat.

Erst als ‘Heisenberg’ bzw. ‘Goodman’ lösen sich die beiden Charaktere von einem an Fremderwartungen ausgerichteten Existenzideal und leben das aus, was sich aus ihrer je eigenen Auslegung der individuellen Lebensgeschichte ergibt: ‘Heisenberg’ ist der Prototyp des rational handelnden und entscheidenden Verstandesmenschen, der seine Fähigkeiten vor allem dazu einsetzt, den größtmöglichen Erfolg in vermeintlich ausweglosen Situationen zu erzielen. Die Motive, die ihn dazu treiben, moralische Grenzen zu überschreiten und Gefühle zu verletzen, sind dabei jedoch alles andere als ‘vernünftig’. Ehrgeiz, Eitelkeit und verletzter Stolz bringen ihn schließlich dazu, eine Entwicklung in Gang zu setzen, die er selbst nicht mehr aufhalten kann. Wie in der griechischen Tragödie ist es die Hybris des Walter White, die am Ende auch bei durchaus wohlwollender Betrachtung seines moralischen Niedergangs als „Moral von der Geschicht’“ ankommt.

‘Goodman’ hingegen hat so gar nichts von ‘übermenschlichen’ Ambitionen, sondern ist eher das Produkt eines fortwährenden Scheiterns an Ansprüchen, die sich mit den eigenen Fähigkeiten nicht einlösen lassen. Anders als Walter ist Jimmy jedoch nicht das Opfer seiner Selbstüberschätzung, sondern hält diese vielmehr in grotesker Verzerrung den anderen vor: Sein Stil karikiert die vermeintliche moralische Überlegenheit der Rechtsvertreter als geschlossene Kaste der qua Herkunft Bevorteilten, die sich mit Statussymbolen und eingespielten Ritualen gegen diejenigen abzugrenzen versuchen, deren Lebensweg aus welchen Gründen auch immer abschüssig anmutet.

Es ist das Verdienst solch großspuriger wie großartiger Erzählungen à la ‘Breaking Bad’ und ‘Better Call Saul’, dass sie das angeblich Böse immer ein wenig besser aussehen lassen, als es ihm von seiner traditionellen Rollenverteilung her zusteht. Damit ist jedoch keineswegs einem Standpunkt das Wort geredet, der sich im Anschluss an die wohlfeile Kritik vermeintlicher Hypermoral um die Rechtfertigung des bloßen Gegenteils bemüht. „Genealogie der Unmoral“ heißt hier vielmehr, eine Perspektive ‘jenseits von gut und böse’ einzunehmen, die dem einen so unnachgiebig auf der Spur bleibt wie dem anderen. Zur Freiheit im Sinne der Entscheidungsfähigkeit verurteilt zu sein bedeutet deshalb nicht zwangsläufig Entweder-oder, sondern meistens eher Sowohl-als-auch.

 

Anmerkungen

[1] Vgl. Thomas R. Wolf: Die Gewalt des Gedenkens. Erinnern und Vergessen bei Nietzsche und Heidegger“, in: Christian Lotz; Thomas R. Wolf; Walther Ch. Zimmerli (Hg.): Erinnerung. Philosophische Positionen und Perspektiven, München: W. Fink 2004, 119-143.

[2] Vgl. Jean-Paul Sartre: Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie. Reinbek b. Hamburg: Rowohlt 1993 (Philosophische Schriften Bd. 3), S. 199ff. Siehe hierzu auch Kimberley Baltzer-Jaray: Finding Happiness in a Black Hat, in: Koepsell/Arp (2013), 43-53.

[3] Vgl. Leslie A. Aarons: The Transformation of Walter White. A Case Study in Bad Faith, in: Decker/Koepsell/Arp (2017), 175–189.

[4] Vgl. Megan Wright: Walter White’s Will to Power, in: Koepsell/Arp (2013), S. 81–89; Stephan Glass: Better than Human, in: Koepsell/Arp (2013), S. 91–100.

[5] Vgl. Darryl L. Murphy: Heisenberg’s Uncertain Confession, in: Koepsell/Arp (2013), 15–26.

Literatur

Decker, Kevin S.; Koepsell, David R.; Arp, Robert (Eds.): Philosophy and Breaking Bad. Cham: Palgrave Macmillan 2017.

Heidegger, Martin: Sein und Zeit, 15. Aufl., Tübingen: M. Niemeyer 1993 [= SZ].

Keslowitz, Steven: Why You Better Call Saul. What our favorite TV lawyer says about life, love, & scheming your way to acquittal & a large cash payout. Tuscon, Arizona: QuillPop Books 2017.

Koepsell, David R.; Arp, Robert (Ed.): Breaking Bad and Philosophy. Badder Living through Chemistry. 2. Printing. Chicago/La Salle, Illinois: Open Court 2013 (Popular Culture and Philosophy Vol. 67)

Nietzsche, Friedrich: Zur Genealogie der Moral. Kritische Studienausgabe. Hg. v. Giogio Colli u. Mazzino Montinari. München: dtv 1999, S. 245–412 [= KSA 5].

Ein Gedanke zu “Der gute Böse. Zur Genealogie der Unmoral in ‘Breaking Bad’ und ‘Better Call Saul’

  1. Lieber Herr Wolf,
    im Zuge der Rezeption von Staffel 4 (Better call Saul) stieß ich auf Ihren Beitrag zur Genealogie der Unmoral, den ich sehr gelungen und erhellend finde. Die Frage nach einem gelingenden Leben stellt sich nach den Ausstiegen von Jimmy und Kim auf je eigene Weise immer wieder drängend. Individuation (um hier noch einen anderen Begriff zu bemühen) geht ja häufig nicht unbedingt mit moralischer Integrität einher.
    Vielen Dank jedenfalls, dass Sie Ihre wertvollen Gedanken hier teilen und öffentlich machen.

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