Verweisung und Verstrickung. Hermeneutische und narrative Wissenschaftskritik

Trotz einer gegenseitigen Nichtbeachtung wurde die strukturelle Verwandtschaft der Existenzialanalytik Martin Heideggers (1889 – 1976) mit der ‚Philosophie der Geschichten‘ von Wilhelm Schapp (1884 – 1965) zwar häufig betont, doch kaum miteinander in Beziehung gesetzt.[1] Von den möglichen Vergleichsdimensionen soll hier die Wissenschaftskritik als zentraler Aspekt sowohl hinsichtlich einer ‚Transformation der Phänomenologie‘ als auch mit Blick auf damit verbundene Probleme des Verhältnisses von Philosophie und Wissenschaft(en) im Mittelpunkt stehen.

Prima facie lässt sich zunächst die Linie einer strikten Radikalisierung ziehen: Während ihr gemeinsamer Lehrer Edmund Husserl (1859 – 1938) bei allen Reformulierungen seines Programms noch am traditionellen Primat der Letztbegründung festhält, verschiebt sich die radikale Wissenschafts- und Metaphysikkritik bei Heidegger und Schapp über eine hermeneutische bzw. narrative Phänomenologie[2] hin zu einem ‚anderen Denken‘, das offenbar nicht mehr rational oder theoretisch einzuholen ist. Unter Verzicht auf Husserls Position soll hier aufgrund ihrer augenfälligen Nähe Heideggers und Schapps hermeneutische bzw. narrative Wissenschaftskritik in vier Schritten diskutiert werden:

 

„Vergleich“: Methodische und thematische Parallelen

Heidegger und Schapp lassen sich in gewisser Weise als ‚Erben‘ der Lebensphilosophie der Jahrhundertwende charakterisieren – Ersterer als Fortsetzer und ‚Überwinder‘ Diltheys und Nietzsches, Letzterer noch als Schüler Simmels und Diltheys in Berlin. Das gilt jedoch nicht nur in einem oberflächlichen kultur­kritischen Sinne von ‚Leben‘ vs. ‚Wissenschaft‘, sondern mehr noch als systematische Fortsetzung des methodischen Anspruchs einer integralen Betrachtungsweise, die eine einseitige Orientierung am theoretisch erkennenden Bewusstsein sowie am Ideal apriorischer Transparenz zu überwinden trachtet. Eine ausführliche Diskussion der facettenreichen Lebensphilosophie als Versuch einer Antwort auf die Krise in Philosophie und Wissenschaften kann hier nicht geführt werden, sodass einige programmatische Hinweise genügen müssen, um den Hintergrund der Ansätze Heideggers und Schapps zu skizzieren:

Bereits Nietzsche weist darauf hin, dass „das Problem der Wissenschaft […] nicht auf dem Boden der Wissenschaft erkannt werden (kann)“, sondern einer erweiterten ‚Optik des Lebens‘ bedürfe, was dann bei Dilthey eine Rückführung des abstrakten, wissenschaftlichen Denkens auf die „ganze Menschennatur, wie Erfahrung, Studium der Sprache und der Geschichte sie erweisen“, veranlasst und sich im Projekt einer ‚Kritik der historischen Vernunft‘ niederschlägt.[3] In seinen frühen Vorlesungen betrachtet Heidegger die Lebensphilosophie daher als „notwendige Station auf dem Wege der Philosophie, im Gegensatz zur leer formalen Transzendentalphilosophie“ (GA 59, 154) und betont noch in ‚Sein und Zeit‘ (1927) ihre systematische Relevanz, wenn es auch die ontologische Indifferenz des Lebensbegriffs durch die Formel vom ‚in-der-Welt-seienden Dasein‘ zu ersetzen gelte. Analog heißt es später bei Schapp, dass „an die Stelle des Lebens das in Geschichten Verstricktsein (tritt)“ (PG 214).

Wie Max Scheler (1874 – 1928) die Erfüllung der lebensphilosophischen Tendenzen durch die Phänomenologie erwartet und Georg Misch (1878 – 1965) eine Auseinandersetzung beider Richtungen für eine gemeinsame fundamentalphilosophische Sache fordert,[4] richten Heidegger und Schapp den phänomenologisch geschulten Blick auf die Einheit erfahrungsmäßigen Lebens, das als geschichtliches Dasein bzw. in-Geschichten-verstrickter Mensch im Sinne eines methodischen Holismus nur im Kontext hermeneutisch ausgelegt oder narrativ gedeutet werden könne: Das In-der-Welt-sein bzw. das In-Geschichten-verstrickt-sein stellt in beiden Ansätzen die ganzheitliche Grundverfassung eines unhintergehbaren – kooperativen und kommunikativen – Lebenszusammenhanges dar, von dem die phänomenologische Deskription ihren Ausgang zu nehmen habe. Vor der isolierten Betrachtung einzelner Momente und Aspekte steht der historisch und pragmatisch vermittelte Erfahrungshorizont, in dem Leben seine Be- und Vollzüge entfaltet.

Anstatt aber nun die perspektivischen Gegebenheitsweisen eines wahrgenommenen Gegenstandes und seiner Abschattungen zum deskriptiven Modell zu erheben, orientieren sich Heidegger und Schapp an der Sinnhaftigkeit konkreter Situationen und der in ihnen artikulierten Strukturen – in beiden Ansätzen wird das Primat des Kontemplativen durch eine ‚Vita activa‘ abgelöst. Was bei Dilthey als ‚Kategorien des Lebens‘ in einer offenen Reihe zergliedert und beschrieben werden sollte, reduziert sich bei Heidegger auf ein Ensemble von ‚Existenzialien‘, die als quasi-transzendentale Explikate die Selbst– und Welterfahrung des Daseins formal anzeigen und sich grundsätzlich von den gegenständlichen Kategorien unterscheiden. Demgegenüber werden die ‚Geschichten‘ bei Schapp global für sämtliche Sinn­einheiten verwendet, doch beinhalten diese narrativ ausweisbare Momente, nach denen sich die Seinsarten von Mensch oder Ding differenzieren lassen.

In der Linie der Lebensphilosophie liegt auch die Betonung der engen Verflechtung von Leben, Welt und Sprache und das daraus resultierende Anliegen eines destruktiven Abbaues der ‚Grammatik‘ traditioneller Metaphysik und ihrer verdinglichenden Ontologie. Methodisch äußert sich dies in einer Auseinandersetzung „mit der Kunstsprache der Philosophen, […] den Kunstsprachen der Einzelwissenschaften, insbesondere der Naturwissenschaft“ (GV 7) bzw. der „Auflockerung der verhärteten Tradition und der Ablösung der durch sie gezeitigten Verdeckungen“ durch einen „Nachweis der Herkunft der ontologischen Grundbegriffe“ (SZ 22). Während Heidegger das phänomenologische Auslegen als ein begriffliches Fixieren verdeckter Seinsstrukturen der Phänomene versteht, scheinen die ‚Gebilde‘ der Geschichten auf ein bloß ontisches ‚Abschildern‘ und ‚Erzählen‘ zu rekurrieren. Dennoch erheben beide den Anspruch auf Explikation des Impliziten nach Maßgabe des im lebendigen Zusammenhang immer schon Vor- und Mitthematischen. Hier wie dort richtet sich ihr Angriff gegen eine intuitive oder auch leibhaftige ‚Selbstgegebenheit‘, da diese allererst eines komplexen Hintergrundes bedürfte, um Gestalt annehmen zu können.

Trotz ihrer ‚De(kon)struktion‘ klassischer Einzelfragen – wie etwa des Erkenntnisproblems – setzen Heidegger und Schapp die von Dilthey über Nietzsche zu Spengler (und ebenso bei Husserl!) latente Neigung zu einer nachmetaphysischen Geschichtsteleologie der Lebensformen fort: Wo Heidegger die Verfallsgeschichte des abendländischen Nihilismus nur in einem epochal gewandelten Seinsgeschick aufgehalten sieht, dem zu ‚entsprechen‘ sei, stellt Schapp gar den „Entwurf einer Allgeschichte […], in der alle Völker und Kulturen Platz haben“ (PG 327), in Aussicht, um die durch den zivilisatorischen Fortschritt drohende „Entgötterung“ (HW 74) bzw. „Entgöttlichung der Welt“ (PG 220) zu kompensieren. Die Auseinandersetzung der Philosophie mit den Wissenschaften erfährt dementsprechend eine Verschärfung, die es im Einzelnen zu verfolgen gilt.

 

„Verweisung“: Heideggers hermeneutische Wissenschaftskritik

Trotz der Kritik an der Reduktion zeitgenössischer Philosophie auf Wissenschafts- und Erkenntnistheorie bezweifelt Heidegger nicht die Legitimität, sondern lediglich die an den Wissenschaften selbst bzw. an der traditionellen Ontologie ausgerichtete Methode solcher Versuche. Zu deren Reformulierung führt er einen existenzialen Wissenschaftsbegriff ein, der theoretische und wissenschaftliche Erkenntnis als abkünftige Seinsweisen des in-der-Welt befindlichen Daseins interpretiert und einen umfassenden Hintergrund pragmatischer Verweisungen voraussetzt. Nach dem Erklärungsmodell einer ‚Werkwelt‘ wird die ontologische Genesis von Wissenschaft als Umschlag eines umsichtigen Umgangs mit ‚Zuhandenem‘ zum erkennenden Bestimmen von ‚Vorhandenem‘ rekonstruiert, wobei die Abkünftigkeit des epistemo-logischen Primats von Erkennen und Aussage aufgezeigt werden soll.

Wissenschaft konstituiere sich in einem modifizierten ‚Seinsverständnis‘, indem der spezifische Gewohnheitszusammenhang alltäglichen Handelns in eine ‚objektivierende‘ Thematisierung überführt wird. Als konstitutiv erweist sich dabei der ‚Verweisungsbruch‘ – vermittelt durch ein mehrfältiges Störungserlebnis –, der die un-thematisch in der Gewohnheit des Umgangs mitgemeinte ‚Welt‘ erst explizit zu machen veranlasst. Zwar kann Heidegger deutlich machen, dass bestimmte traditionelle Unterscheidungen und deren Probleme auf methodisch vorgeordnete Zusammenhänge zu beziehen sind, die einerseits eine pragmatische Motivation, andererseits eine paradigmatische Konzeption der Wissenschaften implizieren, doch gelingt ihm keine kohärente Beschreibung der ontologischen Genesis, da er die beiden Komponenten nicht integrieren kann, um so etwa die Wechselwirkung von wissenschaftlicher und lebensweltlicher Erfahrung zu erklären. Auch bleibt unklar, warum eingeübtes Handeln bzw. das Verständnis der eigenen Möglichkeiten in die Aufstellung theoretischer Sätze über Sachverhalte umschlagen soll. Der Hinweis auf „mannigfache Zwischenstufen“ (SZ 158) zwischen den Extremen der schweigsamen Verrichtung und der abstrakten Prädikation sowie die ‚Gleichursprünglichkeit‘ der Rede mit Befindlichkeit und Verstehen können jene Argumentationslücke nicht schließen, da Sprechen und Handeln hier auseinanderzufallen scheinen. Zwischen der gewohnheitsmäßigen Auslegung des Handelns und dem wissenschaftlichen Entwurf entsteht die eigenartige Kluft unterschiedlicher Seinsverständnisse, die Heidegger nicht zu überbrücken vermag.

Im Zuge der ‚Kehre‘ und seiner Abwendung von der Philosophie als Wissenschaft der Wissenschaft(en) transponiert Heidegger das ungelöste Problem des Verhältnisses von alltäglicher und wissenschaftlicher Praxis in ein epochales Geschehen, das sich als Wandel der ‚Grundstellung‘ zum Seienden vollzieht. Wissenschaft gehört nun zu den genuinen Erscheinungen der Neuzeit, deren „bestimmte Auslegung des Seienden“ und „bestimmte Auffassung der Wahrheit“ (HW 73) das gesamte Zeitalter durchherrscht. Der gemeinsame Zug sämtlicher Wissenschaften als Modelle gegenwärtiger Welterschließung sei die Tendenz zur ‚Vergegenständlichung‘ alles Seienden im Vor- und Her-stellen der Welt als Bild, um sie der Verfügungsgewalt des Menschen auszuliefern. Wie die Wahrheit zur Gewissheit, so wandele sich der Mensch zum Subjekt und erreiche in der modernen Technik die Endgestalt neuzeitlicher Metaphysik. Das Wesen der Technik wird als transsubjektives ‚Geschick‘ identifiziert, das als ‚Ge-stell‘ in sämtlichen Bezügen der modernen Lebensgestaltung waltet. Wo Heidegger einst die Reduktion des praktisch erfahrenen ‚Zuhandenen‘ zum theoretisch erfassten ‚Vorhandenen‘ als Gegenstand der Wissenschaften nachzuzeichnen versuchte, diagnostiziert er nun die technische Manipulation alles Wirklichen zum bloßen Bestand eines energetischen Herrschaftswissens. Zwar betont er fortwährend den ‚machenschaftlichen‘ Charakter der Moderne, doch scheint die ‚Urstiftung‘ sämtlicher Wahrheitsbereiche ausschließlich von einer Sprache her gedacht zu werden, die sich vom dichterischen Sagen bis zum formalisierten Wissenschaftsvokabular erstreckt.

An die Stelle der früheren hermeneutischen – oder gar pragmatischen – Phänomenologie des Alltäglichen treten zunehmend etymologisch gestützte Rekonstruktionen ‚ursprünglichen‘ Denkens sowie semantische Assoziationen zur Reformulierung traditioneller Bestimmungen. Dies mag als ein Indiz dafür gelten, dass das Übergewicht des Handelns in der Daseinsanalyse im Spätwerk von einer Hypostasierung der Sprache als ‚Haus des Seins‘ abgelöst wird, sodass der Versuch einer hermeneutischen Wissenschaftskonstitution in einer universalen Wissenschaftskritik aufgeht, die sämtliche Manipulationen des modernen Menschen als bloß technisch und seinsvergessen denunziert. Der Philosophie bleibt somit lediglich die Option der Offenheit für ein sich wandelndes Sein mittels besinnlichen und gelassenen Denkens.

 

„Verstrickung“: Schapps narrative Wissenschaftskritik

Schapps ‚Philosophie der Geschichten‘ (1959) erweist sich demgegenüber zunächst sogar als radikaler, aber auch konsistenter, da hier keine Reduktion der Komplexität des Lebens auf einzelne seiner immanenten Züge anerkannt wird. Im Gegensatz zu Heideggers anfänglichem Projekt einer regionalontologischen Grundbegriffsklärung stellt sich Schapp aber von vornherein ganz auf Seiten der Destruktion eines philosophisch und einzelwissenschaftlich verstellten Erfahrungsbegriffs.

Eine konsequente Anwendung der phänomenologischen Methode gelangt nach Schapp immer nur zu den ‚Geschichten‘, in denen die Phänomene auftauchen und in die die Handelnden verstrickt sind. Andererseits sind aber im umfassenden Konzept der ‚Geschichte‘ methodisch bereits die Dimensionen des Handelns und Sprechens als Aspekte eines unhintergehbaren Weltverhältnisses integriert, sodass auch die Wissenschaft als ‚theoretische Praxis‘ von einer narrativen Phänomenologie erfasst werden müsste: „Diese Wissenschaften und ihre Methoden sind nicht ihr Vorbild, sondern sie müssen sich einfügen in die Geschichten, und mit dem Platz, der Stellung zufrieden sein, die ihnen hier eingeräumt werden kann.“ (GV 87)

Was sich auf den ersten Blick als alltagssprachliches Beschreibungsverfahren präsentiert, erweist sich als radikale Entsubstanzialisierung, die jegliche Rede von ‚Wesen‘, ‚Begriff‘, ‚Gegenstand‘ oder ‚Sachverhalt‘ in die individuellen Geschichten ihrer kontextuellen Verwendung auflöst. Schapp geht dabei sogar so weit, Allgemein- und Gattungsbegriffe noch über einen Nominalismus hinausgehend auf die tatsächlichen ‚Reihen‘, ‚Serien‘ und ‚Verbände‘ zurückzuführen, in denen die betreffenden Gebilde einstmals hergestellt oder angetroffen wurden. Der entsprechende Ausdruck ist damit nur Abkürzung oder Überschrift einer vergangenen Geschichte, die sich als funktionale Bedeutung sedimentiert hat. Gleiches gilt für den ‚allgemeinen Satz‘ in Wissenschaft und Philosophie, der nur im Kontext einer komplexeren Geschichte seinen jeweiligen Sinn entfaltet. Für die Termini der Wissenschaften sei es aufgrund ihrer historischen Genese nicht möglich, „einen festen Kern in dem, was die Ausdrücke meinen, aufzuweisen, einen festen Kern, der sich identisch durch die Jahrhunderte hindurch erhielte“ (PG 28). Auch für die Geschichten selbst will Schapp lediglich den Zusammenhang von „Vorgeschichtesein, Nachgeschichtesein, dies Im-Horizont-, Im-Hintergrunde-Auftauchen, dies Verhältnis von Vordergrund und Hintergrund, dies Schwimmen der Geschichte im Horizont, […] das Verhältnis der Geschichte zu dem, der sie hört, […] das Verhältnis der Geschichte zu dem, der sie erzählt“ (GV 95) wiedergeben. In der jeweiligen ‚Geschichte‘ sind Ereignis im Sinne der Einheit von Sprach- und Handlungsgeschehen sowie Erzählung als dessen Vermittlung so ineinander verwoben, dass sie als offenes System an ihren Horizonten neue Geschichten impliziert.

Den Zusammenhang zwischen dem in die Geschichte(n) seines Lebens verstrickten Menschen, darin auch die Anderen als Mitverstrickte auftauchen, und der ‚äußeren‘ Welt der Gegenstände rekonstruiert auch Schapp nach dem Modell handwerklichen Tätigseins, um verschiedene Strukturmerkmale aufzuzeigen. In seiner Beschreibung des ‚Wozudinges‘ als das in Sinn- und Zweckzusammenhängen begegnende Gebilde, an dem sein ‚Alter‘ auf Herkunft und Herstellung verweist und sich ein materielles ‚Auswas‘ erst im Zuge der mannigfaltigsten Verrichtungen zeigen kann, tritt die größte Verwandtschaft mit Heideggers Weltlichkeitsanalyse zutage, doch verzichtet Schapp auf den Nachweis eines Fundierungsverhältnisses.[5] Die Philosophie wird nicht mehr als Begründungsinstanz, sondern nur noch als narrative Hilfskonstruktion für eine Positionszuweisung im lebendigen Geschichtengefüge aufgefasst. Dennoch wird deutlich, dass die Theoreme und Konstrukte der Wissenschaften nur verständlich werden, wenn sie sich zu lebensweltlichen Prozessen zurückverfolgen lassen – jene erscheinen dann als Versuche, „Momente aus dieser Welt abzublenden oder aufzublenden gegen das übrige“ (GV 51).

Schapp spricht nicht von ‚Lebenswelt‘, sondern von „positiver Welt in Anlehnung an den Ausdruck positive Religion“ (PG 14), um die übergreifende Rolle der ererbten und erlebten ‚Allgeschichten‘ für die Weltbildung, aber auch die Pluralität möglicher Weltanschauungen zu verdeutlichen. Von diesen Kulturformen unterscheidet er die physikalische Welt als ‚Sonderwelt des Abendlandes‘ und stellt die Frage „nach dem Zusammenhang zwischen den Gebilden der Naturwissenschaft, etwa dem Atom, dem Element, der Lichtwelle“ (PG 23) mit den in den Alltagsgeschichten eingebundenen Phänomenen. Bei Ersteren handele es sich um eine „Erweiterung der irdischen Wozudingwelt […], wobei die irdische Wozudingwelt aber zuvor aus der Geschichten-Wirklichkeit herausgenommen ist und in eine andere Wirklichkeit überführt ist, die aber ihren Sinn weiter von der Geschichtenwirklichkeit entlehnt“ (MN 112).

In seinem letzten Werk ‚Metaphysik der Naturwissenschaft‘ (1965) führt Schapp an verschiedenen Fallbeispielen aus, wie schnell man Gefahr läuft, naturwissenschaftliche Redeweisen außerhalb ihres Kontextes zu verwenden, sodass deren überzogene Ansprüche auf letztgültige Erklärung der ‚Wirklichkeit‘ zuweilen vollkommen sinnlose Aussagen nach sich ziehen, wenn man die Hintergrundgeschichten außer Acht lässt. Insbesondere setzt er sich mit Ansichten auseinander, die ihren Geltungsbereich unzulässig erweitern. Als dessen Kriterien nennt er ‚Deutlichkeit‘ und ‚Handgreiflichkeit‘ und bezieht diese auf lebenspraktisch vermittelte und okkasionelle Sinnzusammenhänge, von denen man ausgehen müsse, „um auf Gebilde, welche Philosophie und Wissenschaft im Auge haben, zu kommen“ (MN 4)[6].

Ebensowenig wie Heidegger kann Schapp jedoch deutlich machen, wie sich diese Modifikation im Sinne einer De– und Rekontextualisierung vollzieht. Den Übergang von der Allgeschichte im Sinne einer gesamtkulturellen Sinnstiftung zur Wissenschaft bzw. die Verdrängung von Ersterer durch Letztere versucht Schapp nun auch auf Geschichten zurückzuführen, indem er Strukturanalogien zwischen der Einbettung von einzelnen Lebensgeschichten in übergeordnete Rahmenerzählungen und der Einordnung von wissenschaftlichen Theorien in Systeme aufzeigt: Beide verfügen idealiter über eine ‚Lückenlosigkeit‘, die einzelne Ereignisse wie Sachverhalte integriert. Der Unterschied liegt darin, dass der Einzelne immer schon in eine Allgeschichte verstrickt ist, während der Eintritt in ein System von bestimmten Bedingungen und Entscheidungen abzuhängen scheint.

Ähnlich wie Heidegger rehabilitiert Schapp kulturelle und religiöse Wissensformen gegenüber einer wissenschaftlichen Verstellung der Phänomene, doch führt sein deskriptiver ‚De(kon)struktivismus‘ zu einem vollständigen Abbau traditioneller Begriffssysteme und –schemata. Zwar gelingt im methodischen Ausgang von Geschichten eine kontextuelle Einbindung von Leib, Sprache, Handlung etc. in fundamentale Lebensformen, die auch Heideggers existenziale Isolation in ‚Allgeschichten‘ zu überwinden versucht, doch wird die Frage nach der Grundlage der Wissenschaften in den Geschichten oder als Ausgangspunkt für neue Geschichten nur unzureichend beantwortet und bedarf einer kritischen Weiterführung.

 

„Verschränkung“: Technik als ‚Geschichte‘

Die Bedeutung von Heideggers und Schapps Wissenschaftskritik liegt trotz ihrer Unzulänglichkeiten in dem Versuch einer Befreiung der Philosophie von einseitig isolierenden Konstruktionen zugunsten einer Orientierung an konkreten Lebenssituationen und inter-/transsubjektiven Sinnzusammenhängen, die als ‚Ende des phänomenologischen Platonismus‘ (H. Lübbe) apostrophiert werden kann. Das Konzept radikaler Geschichtlichkeit führt aber in beiden Ansätzen zu einer Vernachlässigung der positiven Bedeutung der Wissenschaften für die Welterschließung, da diese allein negativ im Sinne einer seins– bzw. geschichten-vergessenen Präsenzmetaphysik und Vorhandenheitsontologie interpretiert werden. Darüber hinaus erweist sich der Status der Philosophie als zunehmend problematisch, da sie über ihre eigenen Kriterien keine Rechenschaft mehr ablegen kann. Die Einseitigkeiten bei Heidegger und Schapp ließen sich durch eine Verknüpfung des hermeneutischen und des narrativen Programms mit Blick auf die von beiden als ‚Nahtstelle‘ betonte Technik überwinden, indem sowohl die Verweisung auf spezifische Zwecksetzungen als Konstituenten wissenschaftlicher Lebensauslegung als auch die Verstrickung in intra-/interkulturelle Sinnstiftungen als Kriterien der Lebensorientierung integriert werden.

Heidegger und Schapp betonen in ihrer Weiterführung der Phänomenologie den engen Zusammenhang von Wissenschaft, Technik und moderner Lebensform und gehen damit methodisch noch über den erweiterten Ansatz in Husserls späten ‚Krisis‘-Abhandlungen hinaus – dennoch bleibt ihr hermeneutischer und narrativer Holismus aufgrund der Orientierung an ‚Vorverständnis‘ und ‚Hintergrundgeschichte‘ übertrieben skeptisch gegenüber dem innovativen Potenzial technischer Rationalität. Trotz ihrer Verabschiedung des Letztbegründungsanspruches halten sie an einem quasi-normativen Status vergangener – oder gar vor-moderner ­– Lebensäußerungen fest, die einer experimentellen Kreation und Korrektur von Erkenntnis nur wenig Raum lassen. Schapps ‚Geschichtenwelt‘ zeigt sich dabei aber offener als Heideggers ‚Seinsgeschichte‘, da immerhin weitere Geschichten auftauchen und fortgesetzt werden können, während bei Heidegger sogar das poietische Privileg der Kunst auf ‚Zuspruch‘ zu warten habe. Völlig zu Recht jedoch machen Schapp und Heidegger je in ihrer Weise auf die Problematik einer falsch verstandenen Fortschrittseuphorie aufmerksam, die zu einer Verarmung der Welt führen kann, wenn bestimmte Standards der Zwecksetzung überbewertet und damit Eigenheiten der Sinnstiftung nivelliert werden.[7]

Das hermeneutische Konzept der Technik als Zu- und Vorhandenes übergreifende Wahrheitserschließung im ‚Ge-stell‘ könnte einerseits durch die pluralen Geschichten aus seiner monistischen Absolutheit gelöst werden, indem unterschiedliche Forschungszwecke, –bereiche und –methoden in ihren Eröffnungsmöglichkeiten vor dem Hintergrund entsprechender Bezugssysteme narrativ rekonstruiert werden.[8] Andererseits verlangt das narrative Konzept der Geschichten in seinem skeptizistisch-relativistischen Anspruch nach einer Form von kritischer Reflexion, die sich aus verschiedenen Fundierungszusammenhängen hermeneutischer Art ergeben könnten. Heideggers Abkünftigkeitsthese lässt sich somit m. E. nur in einem schwachen Sinne als Perspektivenwechsel innerhalb eines historisch-pragmatisch vermittelten Kontextes beibehalten: Interpretationskonflikte motivieren Erkenntnisinteressen – entweder an theoretisch gestützter Prognose und Steuerung; oder an praktisch notwendiger ‚Horizontverschmelzung‘ (Gadamer). Im globalen ‚Teppich‘ technologisch imprägnierten Lebens sind multiple ‚Lesarten‘ – wissenschaftlich oder lebensweltlich – miteinander verwoben, die es nach mehr oder minder komplexen und flexiblen Erfahrungstypen sowie ihren Korrelaten zu differenzieren gilt. Der Philosophie obliegt dabei die hermeneutische Auslegung der vielschichtigen Kontexte und die narrative Deutung der verschiedenen Geltungsansprüche anhand ihrer Geschichte(n). So könnten sich Verweisung und Verstrickung in ihrer Verschränkung als ein produktives Verstehen von Technik als ‚Geschichte‘ bewähren.

 

Anmerkungen

[1] Eine Ausnahme ist Welter (1986), 141ff. Vgl. aber die Bemerkung Schapps in: PG 187 und die Hinweise bei Lübbe (1972), 77; 108; ders.: ‚Vorwort zur Neuauflage‘, in: GV, VI; Rentsch (1985), 11ff; Wälde (1985), 96; 101ff.

[2] ‚Hermeneutisch‘ und ‚narrativ‘ sind hier nicht – wie zuweilen missverständlicherweise nahegelegt wird – im Sinne einer Theorie der Auslegung bzw. Erzählung zu verstehen, sondern spezifizieren den „methodische[n] Sinn der phänomenologischen Deskription“ (SZ 37).

[3] KSA 1, 13; GS I, XVIII.

[4] Vgl. Scheler (1955); Misch (1967).

[5] Deutlicher als Heidegger betont Schapp aber die Bedeutung des Leibes, wenn dieser auch keine apriorische Position einnimmt, sondern wiederum nur über Geschichten verständlich wird. Vgl. GV 22; 100; PG 82ff.

[6] Die Relevanz wissenschaftlichen Wissens beruht ihrerseits auf den ‚Geschichten‘, in denen Methoden und Ziele fundiert sind.

[7] Beispielsweise ist die Einführung von Verhütungsmethoden zur Vermeidung von Überbevölkerung und Hungersnöten in einer Kultur, deren kollektive und individuelle Identität auf der Kontinuität der Ahnenreihe beruht, nicht unproblematisch und bedarf erst einer langwierigen Prozedur der (Selbst-)Auslegung, in der die neue Technik an offene Horizonte anschließen und als Geschichte integriert werden kann.

[8] So handelt es sich etwa bei Röntgen- und Ultraschallaufnahmen um instrumentelle Erweiterungen sinnlich-leiblicher Auffassungen, die neue ‚Wirklichkeiten‘ erschließen und Erklärungen medizinischer Sachverhalte ermöglichen. Auch Computersimulationen und neue Medien erweitern den Alltag um ‚virtuelle Räume‘, in denen andere Probleme mit entsprechenden Lösungsstrategien auftauchen. Ähnliches gilt auch für theoretische Konstrukte technischer Wissenschaften, wie z. B. ‚Intelligenz‘, ‚DNA‘ oder ‚schwarze Löcher‘ etc. Zu ihrer korrekten (d. h. sinnvollen) Verwendung müssen jedoch Prozesse des verstehend-auslegenden Einübens ausgebildet und die jeweiligen Kontexte beachtet werden, die aus mehr oder minder komplexen Geschichten bestehen.

 

Literatur

Dilthey, Wilhelm (1922): Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte, hg. v. Bernhard Groethuysen, Leipzig/ Berlin: Teubner [GS I]

Heidegger, Martin (1980): Holzwege, 6. durchges. Aufl., Frankfurt a. M.: Klostermann [HW]

Heidegger, Martin (1993a): Phänomenologie der Anschauung und des Ausdrucks. Theorie der philosophischen Begriffsbildung, hg. v. Claudius Strube, Frankfurt a. M.: Klostermann [GA 59]

Heidegger, Martin (1993b): Sein und Zeit, 17. Aufl., Tübingen: Niemeyer [SZ]

Lübbe, Hermann (1954): ‚Das Ende des phänomenologischen Platonismus. Eine kritische Betrachtung aus Anlaß eines neuen Buches‘, in: Tijdschrift voor Filosofie 16, 639-666

Lübbe, Hermann (1972): Bewußtsein in Geschichten. Studien zur Phänomenologie der Subjektivität. Mach-Husserl-Schapp-Wittgenstein, Freiburg: Rombach

Misch, Georg (1967): Lebensphilosophie und Phänomenologie. Eine Auseinandersetzung der Diltheyschen Richtung mit Heidegger und Husserl, 3. Aufl., Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft

Nietzsche, Friedrich (1988): Die Geburt der Tragödie. Unzeitgemäße Betrachtungen I-IV. Nachgelassene Schriften 1870-1873, hg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari, München/ Berlin: dtv/ de Gruyter [KSA 1]

Rentsch, Thomas (1985): Heidegger und Wittgenstein. Existential- und Sprachanalysen zu den Grundlagen philosophischer Anthropologie, Stuttgart: Klett-Cotta

Schapp, Wilhelm (1959): Philosophie der Geschichten, Leer/Ostfriesland: Rautenberg [PG]

Schapp, Wilhelm (1965): Metaphysik der Naturwissenschaft, Den Haag: Nijhoff [MN]

Schapp, Wilhelm (1976): In Geschichten verstrickt. Zum Sein von Mensch und Ding, m. einem Vorw. zur Neuaufl. v. Hermann Lübbe, 2. Aufl., Wiesbaden: Heymann [GV]

Scheler, Max (1955): ‚Versuche einer Philosophie des Lebens. Nietzsche-Dilthey-Bergson‘, in: ders.: Vom Umsturz der Werte. Abhandlungen und Aufsätze. 4. Aufl., hg. v. Maria Scheler. Bern: Francke (Gesammelte Werke Bd. 3), 311-339

Wälde, Martin (1985): Husserl und Schapp. Von der Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins zur Philosophie der Geschichten, Basel/ Stuttgart: Schwabe

Welter, Rüdiger (1986): Der Begriff der Lebenswelt. Theorien vortheoretischer Erfahrung, München: Fink

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