Geniale Asoziale. Rezension zu Wolfram Eilenberger: ‘Zeit der Zauberer. Das große Jahrzehnt der Philosophie 1919 – 1929’

„Was für eine Philosophie man wähle, hängt sonach davon ab, was man für ein Mensch ist: denn ein philosophisches System ist nicht ein todter Hausrath, den man ablegen oder annehmen könnte, wie es uns beliebte, sondern es ist beseelt durch die Seele des Menschen, der es hat.“

(Johann Gottlieb Fichte)[1]

Nicht erst seit dem Serien-Spektakel ‘Babylon Berlin’ sind die Zwanziger Jahre des 20. Jahrhunderts in aller Munde: Die verwirrende Mischung aus Aufbruch- und Untergangsstimmung, die das Jahrzehnt zwischen Erstem Weltkrieg und Drittem Reich in allen Bereichen des kulturellen Lebens prägt, übt eine eigenartige Faszination auf uns Heutige aus. Während sich die einen durch das abgründige Nebeneinander von Lebenslust und Wirtschaftskrise, von Exzess und Existenzangst, mit wohligem Schauer an gegenwärtige Verhältnisse erinnert und somit bestens unterhalten fühlen, sehen die anderen in den damals wort- und wirkungsmächtig ausgetragenen philosophischen und politischen Konflikten den hermeneutischen Schlüssel zum Verständnis einer ganzen geistesgeschichtlichen Epoche.

Auch Wolfram Eilenberger, Bestseller-Autor und langjähriger Chefredakteur des ‘Philosophie Magazins’, macht sich diese Faszination zunutze, indem er in den Lebenswegen und dem revolutionären Denken der vier „Ausnahmephilosophen“ Walter Benjamin (1892 – 1940), Ernst Cassirer (1874 – 1945), Martin Heidegger (1889 – 1976) und Ludwig Wittgenstein (1889 – 1951) „den Ursprung unserer heutigen Welt“ begründet sieht. Die vielfach dokumentierten biografischen Anekdoten und das umfangreich kommentierte jeweilige philosophische Gesamtwerk seiner vier Protagonisten bieten somit hinreichendes Material für ein so ehrgeiziges wie dankbares Projekt. Mittels einer intensiven Lektüre dieses mitreißend und unterhaltsam geschriebenen Buches möchte ich zeigen, ob es ihm auch gelungen ist, die „erstaunliche geistige Konstellation“ (Rüdiger Safranski) in ihrem Potenzial auszuschöpfen.

Weiterlesen

Methodischer Nihilismus. Zur Kritik der Werte bei Nietzsche und Heidegger

scheler_blog

Max Scheler
(1874 – 1928)

Im Vorwort zur zweiten Auflage seines Hauptwerkes zur materialen Wertethik schreibt Max Scheler: „Der Geist, der die hier vorgelegte Ethik bestimmt, ist der Geist eines strengen ethischen Absolutismus und Objektivismus.“ Zur dritten Auflage bemerkt der Verfasser einschränkend: „Wenn wir auch gelernt haben, uns um den ‘objektiven Gehalt’ der Werte zu bekümmern, so dürfen wir – sollen wir nicht in einen den lebendigen Geist erstarrenden Objektivismus und Ontologismus zurückfallen – das sittliche Leben des Subjekts als Problem nicht vernachlässigen.“[1] Die Objektivität der Werte und der Lebensvollzug des Menschen sind die beiden Pole, zwischen denen sich Schelers Denken bewegt und deren Vermittlung die Beschäftigung mit seiner Theorie immer wieder vor Probleme stellt. Eine andere Polarität betrifft seine historisch-systematische Stellung: Scheler steht zwischen Nietzsche und Heidegger – rezipiert und antizipiert viele ihrer Grundgedanken in seinen eigenen Entwürfen und bleibt dennoch mit seinem Anliegen des phänomenologischen Aufweisens einer Werteordnung den beiden ihm am nächsten stehenden Denkern merkwürdig fremd. Deren radikale Kritik am Konzept des Wertes überhaupt soll hier in wenigen Linien nachgezeichnet werden. Weiterlesen

Auf-Stand wider die Moderne. Heideggers Spätwerk

industriepark_regenbogen

Regenbogen über Industriepark. © TRW 2014

Mit den hier als ‚Auf-Stand wider die Moderne‘ apostrophierten Texten treten wir im Anschluss an den Weltbild-Vortrag (1938) und den Humanismus-Brief (1946) tiefer in das späte Stadium des Heideggerschen Denkens ein, das sich einerseits durch den Kontrast zu seinen früheren Versuchen auszeichnet, andererseits aber auch in bemerkenswerter Kontinuität zu seinem bisherigen Weg steht. Weiterlesen